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Berufsbildung im Wandel: Ausbildung zwischen Fachkräftesicherung und Persönlichkeitsentwicklung

Ausbildung, BILDUNG
13. Juni 2025
admin

Verbindung von wirtschaftlichen, pädagogischen und psychosozialen Aspekten

Die Berufsbildung steht heute an einem Scheideweg. Sie soll nicht nur den dringenden Bedarf an qualifizierten Fachkräften sichern, sondern zugleich den individuellen Persönlichkeitsentwicklungsprozess junger Menschen fördern. Diese Doppelrolle fordert ein neues Verständnis von Ausbildung, das wirtschaftliche, pädagogische und psychosoziale Dimensionen gleichermaßen integriert. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen, Digitalisierung und Arbeitsmarktanforderungen gilt es, die traditionelle Berufsbildung kritisch zu reflektieren und innovative Impulse für eine ganzheitliche Ausbildung zu setzen.

Dieser Essay analysiert die gegenwärtigen Herausforderungen und Potenziale der Berufsbildung und beleuchtet, wie eine ausgewogene Verbindung von Fachkräftesicherung und Persönlichkeitsentwicklung gelingen kann. Dabei werden empirische Befunde, bildungspolitische Diskurse und psychosoziale Theorien berücksichtigt und praxisnahe Impulse gegeben.


1. Berufsbildung als ökonomisches Steuerungsinstrument: Fachkräftesicherung im Fokus

Die wirtschaftliche Perspektive auf Berufsbildung betont deren Funktion als zentraler Mechanismus zur Sicherung des Fachkräftebedarfs. Insbesondere in Zeiten des demografischen Wandels und technologischen Fortschritts ist der qualifizierte Nachwuchs für Unternehmen und Volkswirtschaften unverzichtbar (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2022).

Empirische Daten zeigen, dass rund 50 % der Jugendlichen in Deutschland eine duale Ausbildung beginnen, die traditionell als Brücke zwischen Arbeitsmarkt und Bildungssystem gilt (BIBB, 2023). Die hohe Beschäftigungsquote von Absolventinnen und Absolventen dualer Systeme bestätigt die Bedeutung dieser Ausbildung für die Fachkräftesicherung (Wolter & Ryan, 2011).

Dennoch weist die Praxis Herausforderungen auf: Unternehmen beklagen zunehmenden Fachkräftemangel, zugleich verzeichnen Ausbildungsbetriebe Schwierigkeiten, geeignete Bewerber zu finden. Dies verdeutlicht eine Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage sowie eine mögliche Überforderung des Ausbildungssystems angesichts neuer Anforderungen (BMBF, 2023).


2. Pädagogische Perspektive: Ausbildung als Lernprozess und Persönlichkeitsentwicklung

Berufsbildung ist mehr als Wissensvermittlung – sie ist ein komplexer pädagogischer Prozess, der die Entwicklung von beruflichen Handlungskompetenzen sowie sozialer und personaler Fähigkeiten umfasst (Deißinger & Gonon, 2010). Ausbildungsprogramme sollen neben Fachwissen insbesondere Problemlösekompetenzen, Selbststeuerung und Teamfähigkeit fördern (OECD, 2019).

Theorien der Erwachsenenbildung und Lernpsychologie unterstreichen die Bedeutung von selbstgesteuertem Lernen, Reflexion und sozialem Kontext. Die Ausbildung stellt somit einen Ort dar, an dem junge Menschen nicht nur berufliche Qualifikationen erwerben, sondern auch ihre Identität und Persönlichkeit entfalten können (Schrader, 2018).

Diese Perspektive kritisiert rein ökonomisch ausgerichtete Ausbildungsmodelle als verkürzend und fordert eine stärkere Berücksichtigung der individuellen Lern- und Entwicklungsbedürfnisse.


3. Psychosoziale Dimension: Identitätsbildung und Resilienz in der Ausbildung

Die psychosozialen Aspekte der Berufsbildung rücken zunehmend in den Fokus. Die Ausbildungszeit ist für junge Menschen eine prägende Phase, in der sie sich in beruflichen Rollen finden und mit Anforderungen wie Leistungsdruck, Unsicherheit oder sozialen Herausforderungen umgehen lernen müssen (Erikson, 1968; Marcia, 1980).

Resilienzforschung zeigt, dass die Fähigkeit, mit Belastungen konstruktiv umzugehen, ein entscheidender Faktor für den Ausbildungserfolg ist (Masten, 2014). Förderung von Selbstwirksamkeit, sozialer Unterstützung und Stressmanagement sind demnach zentrale Elemente einer erfolgreichen Ausbildung.

Empirische Studien belegen, dass psychosoziale Förderung die Abbruchquoten in Ausbildungen signifikant senken und die Motivation sowie das Wohlbefinden der Auszubildenden steigern kann (BIBB, 2022).


4. Herausforderungen und Spannungsfelder: Ökonomie versus Individualität

Trotz der positiven Potenziale zeigt die Realität Spannungsfelder auf:

  • Ökonomischer Druck: Unternehmen erwarten zunehmend kurzfristige Produktivität und Effizienz, was individuelle Entwicklungsprozesse erschwert (Euler, 2013).
  • Heterogenität der Lernenden: Unterschiedliche soziale, kulturelle und individuelle Voraussetzungen verlangen differenzierte pädagogische Konzepte, die im betrieblichen Alltag oft schwer umzusetzen sind (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2022).
  • Digitalisierung: Neue Technologien erfordern einerseits innovative Lernmethoden, andererseits erzeugen sie zusätzliche Belastungen (BIBB, 2023).

Diese Widersprüche verlangen ein Umdenken hin zu mehr Flexibilität, dialogischer Gestaltung und ganzheitlichen Konzepten der Berufsbildung.


5. Praxisimpulse für eine ganzheitliche Ausbildung

Um die Verbindung von Fachkräftesicherung und Persönlichkeitsentwicklung zu stärken, bieten sich folgende Ansätze an:

  • Mentoring-Programme: Erfahrene Fachkräfte begleiten Auszubildende persönlich, unterstützen sie fachlich und psychosozial.
  • Reflexionsphasen und Feedbackkultur: Regelmäßige Gespräche fördern das Bewusstsein für Lernfortschritte und individuelle Entwicklung.
  • Integration von Soft Skills: Kommunikations-, Konflikt- und Zeitmanagement-Trainings sollten Bestandteil der Ausbildung sein.
  • Digital unterstütztes Lernen: Kombination von Präsenz- und E-Learning-Angeboten zur Flexibilisierung und Förderung selbstständigen Lernens.
  • Partizipation der Auszubildenden: Einbezug in Entscheidungsprozesse stärkt Selbstwirksamkeit und Motivation.

Fazit

Die Berufsbildung befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, der neue Anforderungen an die Balance zwischen wirtschaftlichen Zielen und individueller Persönlichkeitsentwicklung stellt. Ein modernes Ausbildungssystem muss diese Dimensionen integrieren und durch innovative, flexible und psychosozial orientierte Konzepte junge Menschen ganzheitlich fördern. Nur so kann die Ausbildung ihrer doppelten Aufgabe gerecht werden: Fachkräfte für eine dynamische Arbeitswelt zu qualifizieren und zugleich Persönlichkeiten zu stärken, die den Herausforderungen der Zukunft resilient begegnen.


Literaturverzeichnis

  • Autorengruppe Bildungsberichterstattung. (2022). Bildung in Deutschland 2022. W. Bertelsmann Verlag.
  • Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). (2022). Berufsbildungsbericht 2022. Bonn.
  • Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). (2023). Berufsbildungsbericht 2023. Bonn.
  • Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). (2023). Bericht zur beruflichen Bildung 2023. Berlin.
  • Deißinger, T., & Gonon, P. (2010). Theorie und Praxis der Beruflichen Bildung. Springer VS.
  • Euler, D. (2013). Das deutsche duale System der Berufsausbildung – ein Modell mit Zukunft? Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 109(4), 450–470.
  • Erikson, E. H. (1968). Identity: Youth and Crisis. W. W. Norton & Company.
  • Marcia, J. E. (1980). Identity in adolescence. In J. Adelson (Ed.), Handbook of Adolescent Psychology (pp. 159–187). Wiley.
  • Masten, A. S. (2014). Ordinary Magic: Resilience in Development. Guilford Publications.
  • OECD. (2019). Skills for 2030: The Future of Work and Learning. Paris.
  • Schrader, J. (2018). Lernprozesse in der beruflichen Bildung. Springer.
  • Wolter, S. C., & Ryan, P. (2011). Apprenticeship. In M. Güell (Ed.), International Handbook of Research on Vocational Education and Training (pp. 109-123). Springer.
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