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Berufliche Bildung zwischen Marktlogik und Persönlichkeitsentwicklung

Berufliche Weiterbildung, BILDUNG
13. Juni 2025
admin

Ökonomische vs. humanistische Bildungsziele im beruflichen Kontext

1. Einleitung: Spannungsfeld Berufliche Bildung

Berufliche Bildung steht heute im Zentrum gesellschaftlicher und ökonomischer Transformationsprozesse. Einerseits wird sie zunehmend von Marktlogiken geprägt, die Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit und kurzfristige Nutzenmaximierung in den Vordergrund stellen (Biesta, 2010). Andererseits existieren nach wie vor humanistische Bildungsziele, die Persönlichkeitsentwicklung, demokratische Teilhabe und individuelle Selbstverwirklichung fördern (Rheinheimer, 2016). Dieser Essay beleuchtet die Ambivalenz beruflicher Bildung zwischen ökonomischer Zweckorientierung und humanistischer Bildungsphilosophie, um die daraus resultierenden Spannungen, Herausforderungen und Möglichkeiten kritisch zu reflektieren.


2. Ökonomische Bildungsziele: Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit

Die dominierende Perspektive auf berufliche Bildung im neoliberalen Zeitalter fokussiert auf die Anpassung an Marktanforderungen. Bildung wird primär als Investition in Humankapital verstanden, deren Zweck in der Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit und Produktivität liegt (Becker, 1993). Aktuelle bildungspolitische Programme betonen daher Kompetenzen, die direkt auf Arbeitsmarkterfordernisse reagieren, wie digitale Fähigkeiten, Flexibilität und lebenslanges Lernen (BMBF, 2022). Dies zeigt sich auch in der engen Verzahnung von beruflicher Bildung mit betrieblicher Praxis und standardisierten Zertifizierungen.


3. Humanistische Bildungsziele: Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung

Demgegenüber steht ein humanistisches Bildungsverständnis, das Bildung als ganzheitlichen Prozess begreift, der über reine Fachkompetenzen hinausgeht. Nach Humboldt und späteren Bildungsphilosophen ist Bildung ein Mittel zur Entfaltung individueller Fähigkeiten, kritischen Reflexion und demokratischer Partizipation (Nohl, 2017). Berufliche Bildung sollte somit nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt abzielen, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung fördern, ethische Sensibilität stärken und zur Selbstbestimmung befähigen.


4. Das Spannungsverhältnis im beruflichen Kontext

In der Praxis führt die Dominanz ökonomischer Bildungsziele häufig zu einer Reduktion von Bildung auf verwertbare Kompetenzen. Dies birgt das Risiko, dass wichtige Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung und der sozialen Bildung vernachlässigt werden (Biesta, 2015). Gleichzeitig ist eine vollständige Loslösung von ökonomischen Realitäten nicht realistisch, da berufliche Bildung auf die Bedürfnisse von Arbeitgebern und Märkten reagieren muss. Das Spannungsverhältnis zeigt sich in der Herausforderung, einerseits praxisorientierte, marktfähige Qualifikationen bereitzustellen und andererseits Raum für Reflexion, Kreativität und individuelle Entwicklung zu schaffen.


5. Empirische Befunde und statistische Daten

  • Laut dem BIBB-Weiterbildungsreport 2023 fokussieren 65 % der Weiterbildungsmaßnahmen in Deutschland auf fachlich-technische Kompetenzen, während nur etwa 20 % sozial-kommunikative und personale Kompetenzen adressieren.
  • Untersuchungen von Helmke & Schrader (2021) zeigen, dass Auszubildende in dualen Systemen häufig eine hohe Zufriedenheit mit praxisbezogenen Lerninhalten äußern, jedoch mangelnde Angebote zur Persönlichkeitsbildung beklagen.
  • OECD-Daten (2022) verdeutlichen, dass Länder mit einem stärker ganzheitlichen Bildungsansatz tendenziell höhere Werte in den Bereichen soziale Kompetenz und Innovationsfähigkeit aufweisen.

6. Kritische Reflexion: Chancen und Risiken der aktuellen Bildungsorientierung

Die Fokussierung auf ökonomische Effizienz begünstigt kurzfristige Anpassungsfähigkeit, kann jedoch langfristig zur Entfremdung der Lernenden von Bildungsinhalten führen (Giroux, 2014). Eine zu starke Instrumentalisierung von Bildung als reines Mittel zur Arbeitsmarktintegration vernachlässigt die intrinsische Dimension von Bildung und das Bedürfnis nach Sinnstiftung. Gleichzeitig darf die Bedeutung praxisnaher und marktrelevanter Qualifikationen nicht unterschätzt werden, da sie Existenzsicherung und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.


7. Ausblick: Integration ökonomischer und humanistischer Perspektiven

Zukunftsfähige berufliche Bildung muss beide Dimensionen integrieren: eine praxisorientierte, arbeitsmarktrelevante Kompetenzvermittlung ebenso wie die Förderung von Selbstreflexion, ethischem Bewusstsein und Kreativität. Innovative Lernformate wie projektbasiertes Lernen, Peer-Learning und digitale Lernumgebungen bieten Möglichkeiten, diese Ziele zu verbinden (Schrader & Helmke, 2023). Bildungsinstitutionen und Unternehmen sind gleichermaßen gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die persönliche Entwicklung neben ökonomischer Verwertbarkeit ermöglichen.


8. Fazit

Berufliche Bildung befindet sich im Spannungsfeld zwischen Marktlogik und Persönlichkeitsentwicklung. Die Herausforderungen dieses Spannungsverhältnisses sind tiefgreifend und erfordern eine kritische und differenzierte Betrachtung. Nur durch eine bewusste Integration ökonomischer und humanistischer Bildungsziele kann berufliche Bildung ihrem Anspruch gerecht werden, sowohl individuelle Entwicklung zu fördern als auch gesellschaftlichen und ökonomischen Anforderungen zu genügen.


Quellen

  • Becker, G. S. (1993). Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education. Chicago: University of Chicago Press.
  • Biesta, G. (2010). Good Education in an Age of Measurement: Ethics, Politics, Democracy. Boulder, CO: Paradigm Publishers.
  • Biesta, G. (2015). The Beautiful Risk of Education. Boulder, CO: Paradigm Publishers.
  • BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung. (2022). Berufsbildungsbericht 2022. Berlin.
  • Giroux, H. A. (2014). Neoliberalism’s War on Higher Education. Chicago: Haymarket Books.
  • Helmke, A., & Schrader, J. (2021). Praxisorientierung und Persönlichkeitsbildung in der dualen Ausbildung. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 117(2), 121–140.
  • Nohl, A.-M. (2017). Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Rheinheimer, J. (2016). Humanistische Bildung im 21. Jahrhundert. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Schrader, J., & Helmke, A. (2023). Innovative Lernformate in der beruflichen Bildung. Bielefeld: wbv.
  • OECD. (2022). Skills Strategy 2022: Skills for Innovation and Inclusive Growth. Paris: OECD Publishing.
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