Alltagsintegrierte Bildung, entdeckendes Lernen, Neugierförderung
Einleitung
Kinder sind von Geburt an neugierige Wesen. Sie staunen, beobachten, imitieren und experimentieren. Frühkindliche Bildung bedeutet nicht, Kinder möglichst früh auf formalisierte Lernprozesse vorzubereiten, sondern ihre natürlichen Lern- und Weltzugänge zu achten, zu unterstützen und zu erweitern. In den ersten sechs Lebensjahren werden die Grundlagen für Denken, Fühlen, soziales Miteinander und lebenslanges Lernen gelegt. Dieser Essay widmet sich der Frage, wie Kinder im Alltag zu Forschern werden können – durch eine alltagsintegrierte, entdeckende Bildungspraxis, die Neugier als Motor des Lernens versteht. Neben einer theoretischen Fundierung sollen konkrete Impulse für die pädagogische Praxis gegeben werden.
1. Alltagsintegrierte Bildung: Lernen im gelebten Leben
Theoretische Grundlagen
Der Begriff „alltagsintegrierte Bildung“ beschreibt ein Konzept, bei dem Bildungsprozesse nicht losgelöst von der Lebenswelt der Kinder stattfinden, sondern in alltäglichen Situationen eingebettet sind. Grundlage hierfür ist der Situationsansatz (Preissing & Heller, 2009), der Kinder als aktiv und kompetent handelnde Subjekte versteht. Bildung vollzieht sich hier in sozialen, emotional bedeutsamen Kontexten.
Die Bildungspläne der Bundesländer (z. B. Bayerischer Bildungs- und Erziehungsplan, 2012) betonen, dass Kinder im Alltag vielfältige Gelegenheiten haben, sich bildend mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen – beim Tischdecken, Zähneputzen, im Freispiel, im Gespräch oder beim Beobachten von Regenwürmern im Garten.
Praxisimpulse
- Beobachtungsaufgaben im Alltag: Kinder werden eingeladen, z. B. bei einem Spaziergang alle runden Dinge zu entdecken oder Geräusche zu benennen. Dies schärft ihre Wahrnehmung und fördert Kategorisierung und Sprache.
- Mathematisches Denken beim Kochen: Beim Backen werden Mengen, Gewichte und Reihenfolgen thematisiert. Hierbei können Kinder z. B. Zählen, Messen, Schätzen und Vergleichen üben (vgl. Schäfer, 2011).
- Pflegesituationen als Beziehungs- und Bildungsräume: Wickeln, Anziehen, Trösten – dies sind keine „Lernpausen“, sondern zentrale Interaktionsfelder, in denen Feinfühligkeit, Kommunikation und Selbstwirksamkeit erlebt werden (Laewen, Andres & Hédervári-Heller, 2003).
2. Entdeckendes Lernen: Bildung durch Erfahrung und Selbsttätigkeit
Wissenschaftliche Fundierung
Entdeckendes Lernen hat seine Wurzeln bei Jean Piaget (1973), der das Kind als „kleinen Wissenschaftler“ beschrieb. Lernen geschieht durch aktives Explorieren, durch das Ausprobieren, Fehler machen und Neustrukturieren von Erfahrungen. Jerome Bruner (1961) forderte, Kindern „strukturiertes Entdecken“ zu ermöglichen – also eine vorbereitete Umgebung, in der sie selbstständig Fragen stellen und Antworten finden können.
Helmke (2012) zeigt in seinen Studien zur Unterrichtsqualität, dass Selbsttätigkeit ein zentraler Faktor für tiefes Lernen ist. Auch in der frühen Kindheit gilt: Was Kinder selbst entdecken, verstehen sie nachhaltiger.
Umsetzungsideen
- Forscherkisten: Materialien wie Lupen, Magnete, Spiegel, Wassergefäße, Pinsel und Naturmaterialien laden Kinder ein, eigene Fragestellungen zu entwickeln. Thema: „Was passiert mit Zucker im Wasser?“ – eine alltägliche Beobachtung, die zu Fragen über Lösung, Temperatur und Mengen führen kann.
- Entdeckungsrundgänge: Im Gruppenraum, Garten oder Wald – Kinder entdecken verborgene Phänomene, stellen Hypothesen auf und dokumentieren ihre Beobachtungen. Pädagog*innen begleiten mit forschenden Fragen: „Was denkst du, warum das so ist?“
- Projektarbeit: Orientiert an Themen, die Kinder faszinieren, z. B. „Wie lebt ein Regenwurm?“, „Warum fliegt ein Papierflieger?“. Projekte geben Raum für fächerübergreifendes Lernen (Sachwissen, Sprache, Motorik, soziale Kompetenzen).
3. Neugierförderung: Die emotionale Basis des Lernens
Bedeutung der Neugier
Neugier ist ein grundlegender Antrieb für Lernprozesse. Silvia & Kashdan (2009) beschreiben Neugier als das „Wunschgefühl nach Wissenszuwachs“ – begleitet von positiven Emotionen. Gerade in der frühen Kindheit ist Neugier eng mit Exploration, Autonomie und Beziehungsqualität verbunden.
Gerald Hüther (2011) weist darauf hin, dass nachhaltiges Lernen dort geschieht, wo Kinder mit Begeisterung und in emotionaler Sicherheit agieren. Pädagogische Beziehungen, die ermutigen, nicht bewerten, sind daher zentral.
Praktische Anregungen
- Neugierfrage des Tages: Jeden Morgen stellt ein Kind oder die Fachkraft eine spannende Frage („Warum schwimmen Fische?“, „Wie kommen die Löcher in den Käse?“). Diese wird gemeinsam im Laufe des Tages erforscht.
- Phänomene sichtbar machen: Gläser mit eingefärbtem Wasser auf der Fensterbank zeigen, wie Wasser verdunstet. Ein einfacher Versuch, der Staunen auslöst und naturwissenschaftliche Denkprozesse initiiert.
- Emotionale Sicherheit schaffen: Verlässliche Bindungspersonen, Rituale, Beteiligung – all dies schafft den sicheren Boden, auf dem Neugier gedeihen kann (vgl. Laewen et al., 2003).
Fazit
Frühkindliche Bildung, die Kinder zu Forschern macht, ist keine Frage spezieller Programme, sondern einer Haltung: Einer Haltung der Wertschätzung, des Interesses und der Ermöglichung. Kinder brauchen Zeit, Raum und Beziehungen, um sich forschend mit ihrer Welt auseinanderzusetzen. Alltagsintegriertes Lernen, entdeckendes Tun und das Zulassen von Fragen ohne schnelle Antworten – das sind die Schlüssel für echte Bildungsprozesse von Anfang an.
Literaturverzeichnis (Auswahl ausschließlich Fachliteratur und Bücher)
- Bruner, J. S. (1961). The act of discovery. Harvard Educational Review.
- Helmke, A. (2012). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Seelze: Klett-Kallmeyer.
- Hüther, G. (2011). Was wir sind und was wir sein könnten. Frankfurt: Fischer.
- Laewen, H.-J., Andres, B., & Hédervári-Heller, E. (2003). Die ersten drei Jahre – Bildung, Betreuung und Erziehung der Jüngsten. Berlin: Cornelsen Scriptor.
- Piaget, J. (1973). Psychologie der Intelligenz. Frankfurt: Suhrkamp.
- Preissing, C., & Heller, C. (2009). Der Situationsansatz: Ein pädagogisches Konzept für die Praxis. Berlin: Cornelsen Scriptor.
- Schäfer, G. (2011). Bildung beginnt mit der Geburt: Die Bedeutung der frühen Kindheit. Freiburg: Herder.
- Silvia, P. J., & Kashdan, T. B. (2009). Curiosity and interest: The benefits of thriving on novelty and challenge. In S. J. Lopez & C. R. Snyder (Eds.), Oxford handbook of positive psychology (2nd ed.). Oxford University Press.