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Männerfreundschaften, Frauenfreundschaften: Gibt es wirklich geschlechtsspezifische Unterschiede?

Freundschaft, SOZIALE BEZIEHUNGEN
13. Juni 2025
admin

Einblick in Forschung zu Emotionalität, Kommunikation und Nähe in Freundschaften

1. Einleitung: Freundschaft als soziale Ressource

Freundschaften sind zentrale Säulen unseres sozialen Lebens. Sie bieten emotionale Unterstützung, sind Quelle für Sinn, Identität und Lebenszufriedenheit. Doch häufig wird die Annahme vertreten, dass Frauen freundschaftliche Beziehungen anders leben als Männer – emotionaler, intensiver, offener. Aber ist diese Differenzierung empirisch haltbar oder Ausdruck kulturell geprägter Erwartungen? Dieser Essay beleuchtet kritisch die Forschungslage zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in Freundschaften und fragt nach deren Ursachen, Wandlungsprozessen und gesellschaftlicher Relevanz.


2. Theoretische Perspektiven auf Geschlecht und soziale Beziehungen

Die Debatte um geschlechtsspezifische Unterschiede in sozialen Beziehungen wurzelt in verschiedenen soziologischen und psychologischen Theorien:

  • Gender-as-Structure-Ansätze (Risman, 2004) verstehen Geschlecht als soziales Konstrukt, das durch institutionelle Rahmenbedingungen und individuelle Interaktion reproduziert wird.
  • Die Social Role Theory (Eagly & Wood, 1991) geht davon aus, dass Männer und Frauen in ihrer Sozialisation auf unterschiedliche Rollen vorbereitet werden – was auch Beziehungsstile prägt.
  • Aus entwicklungspsychologischer Sicht (z. B. Gilligan, 1982) wird argumentiert, dass weibliche Identität stärker über Beziehungen definiert wird, während männliche Sozialisation mehr Autonomie betont.

Diese Ansätze bilden die Grundlage zur Interpretation empirischer Daten zu Freundschaftsformen.


3. Empirische Forschung: Wie Männer und Frauen Freundschaft leben

Zahlreiche Studien zeigen, dass es Unterschiede im Ausdruck von Freundschaft gibt – allerdings keine eindeutigen dichotomen Muster:

  • Emotionalität: Frauen berichten in Umfragen häufiger von emotionaler Nähe in Freundschaften (Rawlins, 2009). Sie teilen persönliche Themen eher und früher.
  • Kommunikationsstil: Männerfreundschaften basieren häufiger auf gemeinsamen Aktivitäten („doing“) wie Sport oder Hobbys, während Frauenfreundschaften stärker durch verbale Kommunikation („talking“) geprägt sind (Walker, 1994).
  • Nähe: Studien (z. B. Fehr, 2004) belegen, dass Männer zwar Nähe empfinden, diese jedoch seltener sprachlich ausdrücken. Nähe wird eher durch Loyalität oder gemeinsame Erlebnisse symbolisiert.

Wichtig: Diese Unterschiede sind nicht biologisch determiniert, sondern stark von kultureller Prägung beeinflusst.


4. Kommunikation, Intimität und Nähe – wirklich geschlechtsspezifisch?

Ein zentraler Forschungsbereich ist die Frage nach der Fähigkeit und Bereitschaft, Intimität in Freundschaften zuzulassen. Dabei zeigt sich:

  • Männer werden häufig durch Normen emotionaler Zurückhaltung und das Ideal der „stoischen Männlichkeit“ sozialisiert (Way, 2013).
  • Frauen gelten als beziehungsorientierter – was jedoch teils auf die Bereitschaft zurückzuführen ist, über Gefühle zu sprechen, nicht unbedingt auf ein „Mehr“ an Emotion.
  • Moderne Männerfreundschaften wandeln sich: Studien zeigen eine zunehmende Öffnung für emotionale Themen, insbesondere bei jüngeren Generationen (Reeser & Gottzén, 2018).

5. Der Einfluss von Sozialisation und Gesellschaft

Die meisten geschlechtsspezifischen Unterschiede in Freundschaften lassen sich durch geschlechtsbezogene Sozialisation und kulturelle Rollenerwartungen erklären:

  • Jungen werden früh auf Unabhängigkeit und Konkurrenz getrimmt, Mädchen eher auf Fürsorge und Kooperation.
  • Medien und Populärkultur reproduzieren stereotype Vorstellungen („Bromance“ vs. „beste Freundin“).
  • Gesellschaftlicher Druck, insbesondere auf Männer, Intimität nicht zu zeigen, wirkt sich negativ auf Freundschaftsqualität aus (Valkenburg & Peter, 2011).

6. Veränderungen durch Alter, Lebensphase und kulturelle Faktoren

Unterschiede zwischen Männer- und Frauenfreundschaften sind nicht konstant über die Lebensspanne:

  • Im höheren Alter wird emotionale Offenheit für Männer wichtiger – Männer holen im Ausdruck sozialer Nähe auf (Carstensen, 1995).
  • Kulturelle Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle: In kollektivistisch geprägten Gesellschaften (z. B. Japan, Südeuropa) sind Männerfreundschaften emotionaler als im Westen (Adams & Plaut, 2003).
  • Die digitale Kommunikation verändert Freundschaftsgewohnheiten beider Geschlechter und bietet neue Räume für Emotionalität, unabhängig vom Geschlecht (Baym, 2015).

7. Kritische Reflexion: Zwischen Klischee und Differenz

Die binäre Unterscheidung in Männer- und Frauenfreundschaften ist problematisch, da sie Differenz erzeugt, wo Kontinuität und Vielfalt herrschen. Geschlecht ist nur eine Dimension, die Freundschaften beeinflusst – andere wie Bildung, Persönlichkeit, Kultur oder sexuelle Orientierung sind ebenso bedeutsam. Es ist notwendig, Freundschaften intersektional zu betrachten und sich von klischeehaften Zuschreibungen zu lösen.


8. Fazit: Freundschaft jenseits binärer Zuschreibungen

Die Forschung zeigt: Ja, es gibt Unterschiede in der Art, wie Männer und Frauen Freundschaft leben – aber diese sind nicht naturgegeben, sondern sozial konstruiert. Freundschaften verändern sich im Laufe des Lebens, sie reagieren auf gesellschaftliche Entwicklungen, individuelle Biografien und kulturelle Kontexte. In einer zunehmend individualisierten Welt sollten wir nicht fragen, wie Männer oder Frauen Freundschaft „typischerweise“ gestalten, sondern wie vielfältig und wandelbar zwischenmenschliche Bindungen sein können.


Literatur (Auswahl)

  • Adams, G., & Plaut, V. (2003). The cultural grounding of personal relationship: Friendship in North American and West African worlds. Personal Relationships, 10(3), 333–347.
  • Baym, N. K. (2015). Personal Connections in the Digital Age. Polity.
  • Carstensen, L. L. (1995). Evidence for a life-span theory of socioemotional selectivity. Current Directions in Psychological Science, 4(5), 151–156.
  • Eagly, A. H., & Wood, W. (1991). Explaining sex differences in social behavior: A meta-analytic perspective. Personality and Social Psychology Bulletin, 17(3), 306–315.
  • Fehr, B. (2004). Intimacy expectations in same-sex friendships: A prototype interaction-pattern model. Journal of Personality and Social Psychology, 86(2), 265–284.
  • Gilligan, C. (1982). In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development. Harvard University Press.
  • Rawlins, W. K. (2009). The Compass of Friendship: Narratives, Identities, and Dialogues. Sage.
  • Reeser, T. W., & Gottzén, L. (2018). Masculinity and Intimacy: Power, Gender and Social Relations. Palgrave Macmillan.
  • Risman, B. J. (2004). Gender as a social structure: Theory wrestling with activism. Gender & Society, 18(4), 429–450.
  • Valkenburg, P. M., & Peter, J. (2011). Online communication and adolescent well-being: Testing the stimulation versus the displacement hypothesis. Journal of Computer-Mediated Communication, 16(2), 200–209.
  • Walker, K. (1994). Men, women, and friendship: What they say, what they do. Gender & Society, 8(2), 246–265.
  • Way, N. (2013). Deep Secrets: Boys’ Friendships and the Crisis of Connection. Harvard University Press.
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