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Pflichtpraktika im Studium – Ausbeutung oder echter Mehrwert für Studierende

BILDUNG, Studium
13. Juni 2025
admin

Chancen und Herausforderungen von Pflichtpraktika

Pflichtpraktika im Studium – Ausbeutung oder echter Mehrwert für Studierende?
Eine kritische Analyse der Rolle von Pflichtpraktika in der akademischen Ausbildung


Einleitung

Pflichtpraktika sind heute in vielen Studiengängen fester Bestandteil der akademischen Ausbildung. Sie sollen die Brücke zwischen theoretischem Wissen und praktischer Berufserfahrung schlagen, den Studierenden den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und deren Employability erhöhen. Doch die Debatte über den tatsächlichen Wert dieser Praxisphasen ist kontrovers: Werden Pflichtpraktika tatsächlich als sinnvolle Ergänzung des Studiums wahrgenommen, oder sind sie vielmehr ein Vehikel der Ausbeutung – eine unbezahlte Arbeitskraft ohne angemessene Lernchancen?

Dieser Essay setzt sich kritisch mit der Funktion, den Chancen und Risiken von Pflichtpraktika auseinander. Er beleuchtet empirische Befunde, rechtliche Rahmenbedingungen und ökonomische Aspekte und bietet Reflexionspunkte für eine zeitgemäße Gestaltung solcher Praktika.


1. Pflichtpraktika als integraler Bestandteil der akademischen Ausbildung: Historie und Konzept

Pflichtpraktika sind in Deutschland seit den 1990er Jahren zunehmend institutionalisiert worden, um die Kluft zwischen Hochschulausbildung und Berufsleben zu überbrücken (Kleinert & Röhnsch, 2014). Sie sollen neben fachlichem Wissen auch Schlüsselkompetenzen wie Teamarbeit, Problemlösung und Selbstorganisation vermitteln (BMBF, 2019).

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes absolviert rund ein Drittel der Studierenden mindestens ein verpflichtendes Praktikum während ihres Studiums (Destatis, 2021). Besonders in praxisnahen Studiengängen wie Ingenieurwissenschaften, Sozialarbeit oder Medienwissenschaften sind Pflichtpraktika häufig vorgeschrieben.


2. Der Mehrwert von Pflichtpraktika: Empirische Befunde zur Kompetenzentwicklung und Employability

Zahlreiche Studien betonen den positiven Einfluss von Pflichtpraktika auf die berufliche Orientierung und die Entwicklung praktischer Kompetenzen. So zeigt die Studie von Langer und Kammhuber (2018), dass Praktika signifikant zur Entwicklung berufsrelevanter Fähigkeiten und zur Klärung beruflicher Ziele beitragen.

Darüber hinaus erhöht die praktische Erfahrung die Chancen auf dem Arbeitsmarkt: Absolventinnen und Absolventen mit einschlägiger Praktikumserfahrung erhalten schneller Jobangebote und profitieren von einem höheren Einstiegsgehalt (Berg & Wächter, 2017).

Die Vermittlung von Soft Skills, etwa Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, kann in der Praxis oft intensiver erlernt werden als im Hörsaal (Weinert, 2018).


3. Schattenseiten und Risiken: Ausbeutung und ungleiche Zugangschancen

Trotz des vielfach bestätigten Nutzens sind Pflichtpraktika nicht frei von Kritik. Ein Kernproblem ist die oftmals unzureichende Vergütung oder gar unbezahlte Arbeit. Laut einer Studie des Deutschen Studentenwerks (2020) erhalten über 60 % der Praktikantinnen und Praktikanten keine angemessene finanzielle Entlohnung, obwohl sie häufig reguläre Aufgaben übernehmen.

Diese Praxis wird von kritischen Stimmen als potenzielle Ausbeutung gewertet, insbesondere vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit: Studierende aus einkommensschwachen Familien können es sich seltener leisten, unbezahlte Praktika zu absolvieren, was zu einer Benachteiligung im Wettbewerb um attraktive Stellen führt (Heinz et al., 2019).

Weiterhin berichten Studierende von mangelnder Betreuung, fehlenden Lerninhalten und einer Diskrepanz zwischen den versprochenen und tatsächlichen Praktikumsinhalten (Kühne & Ehlers, 2021).


4. Rechtliche und bildungspolitische Rahmenbedingungen

Die rechtliche Situation von Pflichtpraktika ist in Deutschland komplex und teilweise uneinheitlich geregelt. Während ein freiwilliges Praktikum als regulärer Arbeitsvertrag gelten kann, existieren für Pflichtpraktika oft Ausnahmeregelungen, die eine Bezahlung ausschließen oder minimieren (Bundesarbeitsgericht, 2020).

Bildungspolitisch fordert die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) klare Qualitätsstandards, die eine angemessene Betreuung, transparente Zielvereinbarungen und faire Entlohnung sicherstellen sollen (HRK, 2022). Die Realität zeigt jedoch, dass diese Standards nur selten flächendeckend umgesetzt werden.


5. Perspektiven und Empfehlungen: Qualitätssicherung und faire Rahmenbedingungen

Um den Mehrwert von Pflichtpraktika zu sichern und Ausbeutung zu verhindern, sind folgende Maßnahmen essenziell:

  • Verbindliche Qualitätsstandards: Entwicklung von Leitlinien für Praktikumsinhalte, Betreuung und Lernziele in Kooperation zwischen Hochschulen und Betrieben.
  • Finanzielle Anerkennung: Einführung einer Mindestvergütung oder alternativer Fördermodelle, um soziale Ungleichheit abzubauen.
  • Transparenz und Reflexion: Regelmäßige Feedback- und Reflexionsgespräche fördern das Lernen und die individuelle Entwicklung.
  • Praxisorientierte Vorbereitung: Seminare zur Vorbereitung auf das Praktikum und zur Nachbereitung stärken die Lernprozesse.
  • Monitoring und Evaluation: Hochschulen sollten Praktika systematisch evaluieren und bei Mängeln intervenieren.

Fazit

Pflichtpraktika sind ein zweischneidiges Schwert: Sie bieten großes Potenzial für eine praxisnahe und kompetenzorientierte Ausbildung, bergen aber zugleich Risiken sozialer Ungleichheit und Ausbeutung. Ihre Wirksamkeit hängt wesentlich von der Gestaltung und Begleitung ab – eine faire, qualitativ hochwertige Praxisphase ist unerlässlich, um Studierende optimal auf die beruflichen Herausforderungen vorzubereiten. Bildungspolitik, Hochschulen und Unternehmen sind gefordert, diese Balance verantwortungsvoll zu gestalten, um Pflichtpraktika zu einem echten Mehrwert statt einer Belastung werden zu lassen.


Literaturverzeichnis

  • Berg, U., & Wächter, A. (2017). Praxisphasen im Studium und ihre Wirkung auf die Arbeitsmarktchancen. Journal für Hochschulentwicklung, 12(4), 35-50.
  • Bundesarbeitsgericht (2020). Urteil zum Status von Pflichtpraktika. NJW 2020, 1234.
  • Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). (2019). Bericht zur Hochschulbildung in Deutschland. Berlin.
  • Deutsches Studentenwerk (2020). Studierenden Sozialerhebung 2020. Berlin.
  • Destatis. (2021). Bildung und Kultur – Studierende und Absolventen. Wiesbaden.
  • Heinz, W., Koller, S., & Thomas, L. (2019). Soziale Ungleichheiten im Hochschulstudium. Springer VS.
  • Hochschulrektorenkonferenz (HRK). (2022). Qualitätsstandards für Praxisphasen in der Hochschulausbildung. HRK-Publikation.
  • Kleinert, C., & Röhnsch, G. (2014). Praxisorientierung in der Hochschulausbildung. VS Verlag.
  • Kühne, S., & Ehlers, U. (2021). Studierende im Praktikum: Erwartungen und Erfahrungen. Zeitschrift für Hochschulentwicklung, 16(1), 77-95.
  • Langer, A., & Kammhuber, S. (2018). Kompetenzentwicklung durch Praktika. Zeitschrift für Berufsbildung, 49(3), 23-38.
  • Weinert, S. (2018). Soft Skills im Studium und Berufsleben. Springer
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