Paradigmenwechsel in Lernkulturen und Bildungstheorien
1. Einleitung: Wandel in der Erwachsenenbildung
Die Erwachsenenbildung befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Während klassische Weiterbildungsangebote lange Zeit durch institutionelle, oft formal strukturierte Lernprozesse geprägt waren, gewinnt heute die Selbstbildung als eigenverantwortliche, selbstgesteuerte Form des Lernens zunehmend an Bedeutung. Dies spiegelt nicht nur veränderte gesellschaftliche Anforderungen wider, sondern auch einen Paradigmenwechsel in Lernkulturen und Bildungstheorien, der auf eine stärkere Autonomie der Lernenden, Digitalisierung und Flexibilisierung setzt.
2. Traditionelle Weiterbildung vs. Selbstbildung: Begriffliche und theoretische Grundlagen
Traditionelle Weiterbildung beschreibt gezielte Bildungsmaßnahmen, die meist durch Institutionen organisiert und didaktisch strukturiert sind. Hier stehen formale Curricula, externe Steuerung und Zertifikate im Vordergrund (Schrader, 2018). Dagegen versteht man unter Selbstbildung (Andragogik) einen Prozess, bei dem Erwachsene eigeninitiativ, reflexiv und situativ relevante Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen erwerben (Roth, 2011). Selbstbildung betont Autonomie, intrinsische Motivation und die aktive Gestaltung des Lernprozesses.
3. Paradigmenwechsel in Lernkulturen: Autonomie, Digitalisierung und Informalität
Im Kontext der Wissensgesellschaft und Digitalisierung erweitern sich die Lernlandschaften radikal. Digitale Plattformen, soziale Medien und Open Educational Resources (OER) bieten eine Fülle an Lernmöglichkeiten außerhalb institutioneller Rahmen (Kerres, 2020). Informelles Lernen – Lernen, das ohne formale Struktur oder Zertifizierung stattfindet – wird zur dominierenden Lernform. Die Rolle der Erwachsenenbildung verlagert sich dabei hin zu einem unterstützenden Begleiter, der Lernprozesse ermöglicht und fördert (European Commission, 2019).
Die zunehmende Bedeutung der Lernenden-Autonomie fordert traditionelle Bildungsinstitutionen heraus, flexibel und adaptiv zu agieren (Jarvis, 2015). Dies erfordert neue didaktische Konzepte, die Selbstlernkompetenzen stärken und zugleich soziale und technische Rahmenbedingungen schaffen.
4. Bildungstheoretische Perspektiven: Vom Behaviorismus zur konstruktivistischen Selbstbildung
Bildungstheoretisch markiert der Wandel eine Bewegung von behavioristischen, lehrerzentrierten Modellen hin zu konstruktivistischen und sozial-konstruktivistischen Ansätzen, die Lernen als aktiven, subjektiven und kontextgebundenen Prozess verstehen (Illeris, 2014). Selbstbildung wird hierbei als kontinuierliche, lebenslange Auseinandersetzung mit Welt und Identität interpretiert, die sich nicht auf formale Bildungsinstitutionen beschränkt (Mezirow, 2000).
Transformative Lernprozesse, bei denen die eigene Weltsicht hinterfragt und neu geordnet wird, sind zentrale Elemente der Selbstbildung und ermöglichen tiefgreifende Persönlichkeitsentwicklung (Taylor, 2009).
5. Chancen und Herausforderungen der Selbstbildung in der Erwachsenenbildung
Chancen:
- Förderung von Selbstwirksamkeit und Motivation (Deci & Ryan, 2000)
- Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an individuelle Lebensumstände
- Demokratisierung von Bildung durch digitale Zugänge
Herausforderungen:
- Soziale Ungleichheiten in digitaler Teilhabe („Digital Divide“) (Van Dijk, 2020)
- Fehlende Orientierung und Überforderung durch Informationsflut
- Notwendigkeit der Entwicklung von Metakompetenzen und kritischem Denken
Die hohe Autonomie erfordert von Lernenden Kompetenzen zur Selbststeuerung, die nicht alle gleichermaßen mitbringen (Zimmermann, 2008). Institutionen stehen vor der Aufgabe, diese Kompetenzen gezielt zu fördern und unterstützende Lernumgebungen zu schaffen.
6. Praktische Implikationen und Anregungen für Bildungsakteure und Lernende
- Förderung von Selbstlernkompetenzen durch gezielte Trainings, Coaching und Mentoring (Schunk & Greene, 2018)
- Integration digitaler Tools und hybrider Lernformate, um verschiedene Lernbedürfnisse zu bedienen (Hrastinski, 2019)
- Aufbau inklusiver Lernumgebungen, die Barrieren abbauen und Diversität wertschätzen (Knowles et al., 2015)
- Entwicklung von Lernpfaden, die sowohl formales als auch informelles Lernen verbinden
- Stärkung von Peer-Learning und Community-Bildung, um soziale Unterstützung zu gewährleisten
7. Fazit: Zukunftsvisionen und kritische Reflexion
Der Paradigmenwechsel von Weiterbildung zu Selbstbildung markiert eine große Chance, Bildungsprozesse nachhaltiger, individueller und demokratischer zu gestalten. Allerdings birgt er auch Risiken der sozialen Selektion und Überforderung. Für die Erwachsenenbildung bedeutet dies, traditionelle Angebote neu zu denken, Lernende zu befähigen und Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Bildung als lebenslanger, selbstbestimmter Prozess zugänglich bleibt.
Zukunftsfähige Bildungskonzepte müssen daher die Balance zwischen Autonomie und Unterstützung, zwischen Digitalisierung und sozialer Inklusion wahren – nur so kann Selbstbildung ihr volles Potenzial entfalten.
Literaturverzeichnis (Auswahl)
- Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). The “What” and “Why” of Goal Pursuits: Human Needs and the Self-Determination of Behavior. Psychological Inquiry, 11(4), 227–268.
- European Commission. (2019). The Digital Education Action Plan 2021-2027. https://ec.europa.eu/education/education-in-the-eu/digital-education-action-plan_en
- Hrastinski, S. (2019). What Do We Mean by Blended Learning? TechTrends, 63, 564–569.
- Illeris, K. (2014). Transformative Learning and Identity. Routledge.
- Jarvis, P. (2015). Adult Education and Lifelong Learning. Routledge.
- Kerres, M. (2020). Digitale Medien in der Hochschullehre: Konzepte, Erfahrungen und Perspektiven. Springer VS.
- Knowles, M. S., Holton III, E. F., & Swanson, R. A. (2015). The Adult Learner: The definitive classic in adult education and human resource development. Routledge.
- Mezirow, J. (2000). Learning as Transformation: Critical Perspectives on a Theory in Progress. Jossey-Bass.
- Roth, G. (2011). Selbstbestimmung und Selbstbildung. In G. Roth & J. Baur (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung / Weiterbildung (S. 117–128). VS Verlag.
- Schrader, J. (2018). Weiterbildung – Grundlagen, Strukturen, Trends. Springer.
- Schunk, D. H., & Greene, J. A. (2018). Self-Regulated Learning: Theories, Measures, and Outcomes. Springer.
- Taylor, E. W. (2009). Fostering Transformative Learning. New Directions for Adult and Continuing Education, 2009(119), 47–56.
- Van Dijk, J. (2020). The Digital Divide. Polity Press.
- Zimmermann, B. J. (2008). Becoming a Self-Regulated Learner: An Overview. Theory Into Practice, 41(2), 64–70.