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Warum wir uns in Krisen an Freund:innen erinnern – und was das über Bindung verrät

Freundschaft, SOZIALE BEZIEHUNGEN
13. Juni 2025
admin

Freundschaft als Schutzfaktor für psychische Resilienz.

1. Einleitung: Wenn Krisen alte Bindungen aktivieren

Krisen – seien sie persönlich, gesellschaftlich oder global – bringen nicht nur äußere Erschütterungen mit sich, sondern wirken auch tief in unsere emotionalen Netzwerke hinein. Auffällig ist, dass sich viele Menschen in solchen Momenten verstärkt an frühere Freund:innen erinnern oder wieder Kontakt aufnehmen. Dieses Phänomen verweist auf die existentielle Bedeutung sozialer Bindungen – insbesondere der Freundschaft – als psychologischer Schutzmechanismus. Der vorliegende Essay beleuchtet die Rolle von Freundschaft im Kontext von psychischer Resilienz, bindungstheoretischen Mechanismen und krisenbedingter Reaktivierung sozialer Netzwerke.


2. Bindungstheorie und soziale Nähe: Freundschaft als Bindungssystem

Die Bindungstheorie nach John Bowlby (1969) bildet einen zentralen theoretischen Rahmen zur Erklärung menschlicher Nähebedürfnisse. Während sie ursprünglich auf Eltern-Kind-Beziehungen fokussierte, wurde sie später auf erwachsene Beziehungen erweitert (Ainsworth, 1989; Hazan & Shaver, 1987). Freundschaften – vor allem langjährige – erfüllen in Stresssituationen ähnliche Funktionen wie primäre Bindungspersonen: Sie spenden emotionale Sicherheit, helfen bei der Emotionsregulation und stärken das Selbstwertgefühl (Mikulincer & Shaver, 2007). In Krisen greifen Menschen unbewusst auf solche sicheren Bindungserfahrungen zurück.


3. Krisen und Resilienz: Der psychologische Nutzen vertrauter Beziehungen

Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, psychisch gesund durch Belastungssituationen zu navigieren (Rutter, 1985; Masten, 2001). Studien belegen, dass soziale Unterstützung einer der entscheidenden Schutzfaktoren ist – und Freundschaften dabei eine zentrale Rolle spielen (Werner & Smith, 2001; Ungar, 2011). Freund:innen bieten:

  • emotionale Unterstützung (Empathie, Akzeptanz)
  • instrumentelle Hilfe (praktische Unterstützung)
  • bewertende Rückmeldung (Realitätsabgleich, Perspektiven)

Gerade in Zeiten sozialer Isolation, wie während der COVID-19-Pandemie, zeigte sich der protektive Effekt von Freundschaft besonders deutlich (Loades et al., 2020; Holt-Lunstad, 2021).


4. Neurobiologische Grundlagen: Warum Nähe beruhigt

Psychosoziale Nähe aktiviert neurobiologische Systeme, die Stress puffern. Freundschaftliche Interaktion steigert die Ausschüttung von Oxytocin – dem sogenannten Bindungshormon –, senkt den Cortisolspiegel und aktiviert das Belohnungssystem (Heinrichs & Domes, 2008). Bereits das Erinnern an soziale Unterstützung genügt mitunter, um physiologische Stressreaktionen zu dämpfen (Eisenberger et al., 2011). So wird verständlich, warum in Krisen Erinnerungen an enge Freund:innen beruhigend wirken können.


5. Erinnerungspsychologie: Warum Krisen alte Freundschaften reaktivieren

Krisen reaktivieren autobiografisches Gedächtnis, insbesondere sogenannte Self-Defining Memories – also identitätsstiftende Erinnerungen (Singer & Blagov, 2004). Freundschaften aus vergangenen Lebensphasen, etwa Jugend oder Studium, sind häufig in solchen Episoden verankert. Ihre Reaktivierung dient:

  • der Identitätsstabilisierung in unsicheren Zeiten
  • dem Wiedererleben früherer Ressourcen und Kompetenzen
  • der Rückverbindung zu einem als „ganz“ empfundenen Selbstbild

Psychologisch gesehen helfen solche Erinnerungen, Kohärenz im Erleben herzustellen – eine wichtige Voraussetzung für psychische Stabilität (McAdams, 2001).


6. Freundschaft im digitalen Zeitalter: Ein neuer Schutzfaktor?

Digitale Kommunikationsformen ermöglichen heute, alte Kontakte mit wenig Aufwand wiederaufzunehmen – sei es über soziale Netzwerke, Messenger oder E-Mail. Während dies als positiv für psychosoziale Stabilität gewertet werden kann, zeigen Studien auch ambivalente Effekte: Virtuelle Freundschaften bieten zwar Quantität, aber nicht immer Qualität der Verbindung (Turkle, 2015; Bessière et al., 2008). Dennoch: In Pandemiezeiten wurden digitale Formen der Freundschaft vielfach zu Ersatzräumen für Nähe – mit durchaus resilientem Potenzial (Ellison et al., 2007).


7. Kritische Perspektiven: Nicht jede Freundschaft stärkt

Nicht alle Freundschaften bieten Schutz. Chronisch belastende oder asymmetrische Beziehungen können in Krisen sogar zusätzlichen Stress verursachen (Rook, 1984). Auch übermäßige emotionale Abhängigkeit – etwa in Co-Abhängigkeitsdynamiken – kann Resilienz untergraben. Deshalb ist es entscheidend, Qualität und Funktion der sozialen Bindung zu reflektieren. Die moderne Resilienzforschung fordert hier einen differenzierten Blick: Nicht Beziehung per se stärkt, sondern funktionale Beziehungsmuster.


8. Fazit: Freundschaft als emotionale Ressource verstehen

Freundschaften sind weit mehr als emotionale Zugaben zum Leben – sie sind grundlegende soziale Ressourcen, die in Krisenzeiten helfen, psychisches Gleichgewicht zu wahren. Die spontane Erinnerung an frühere Freund:innen ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines evolutionär verankerten Schutzmechanismus. Indem wir diese Bindungen pflegen – auch jenseits akuter Not – schaffen wir Resilienzräume, die uns langfristig stabilisieren. Die Erwachsenenbildung und Gesundheitspsychologie sollten daher soziale Beziehungen als Teil präventiver Resilienzstrategien stärker berücksichtigen.


Literaturverzeichnis (Auswahl, APA-Stil)

  • Ainsworth, M. D. S. (1989). Attachments beyond infancy. American Psychologist, 44(4), 709–716.
  • Bowlby, J. (1969). Attachment and Loss: Vol. 1. Attachment. Basic Books.
  • Eisenberger, N. I., Taylor, S. E., Gable, S. L., Hilmert, C. J., & Lieberman, M. D. (2011). Neural pathways for social support in humans. Psychological Science, 18(11), 1125–1132.
  • Ellison, N. B., Steinfield, C., & Lampe, C. (2007). The benefits of Facebook „friends“. Journal of Computer-Mediated Communication, 12(4), 1143–1168.
  • Heinrichs, M., & Domes, G. (2008). Neuroendocrine mechanisms of social behavior. Current Opinion in Psychiatry, 21(6), 481–485.
  • Holt-Lunstad, J. (2021). Social connection as a public health issue: The evidence and a system approach. American Journal of Health Promotion, 35(1), 139–147.
  • Loades, M. E., Chatburn, E., Higson-Sweeney, N., Reynolds, S., Shafran, R., Brigden, A., … & Crawley, E. (2020). Rapid systematic review: the impact of social isolation and loneliness on the mental health of children and adolescents in the context of COVID-19. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 59(11), 1218–1239.
  • Masten, A. S. (2001). Ordinary magic: Resilience processes in development. American Psychologist, 56(3), 227–238.
  • McAdams, D. P. (2001). The psychology of life stories. Review of General Psychology, 5(2), 100–122.
  • Mikulincer, M., & Shaver, P. R. (2007). Attachment in adulthood: Structure, dynamics, and change. Guilford Press.
  • Rook, K. S. (1984). The negative side of social interaction. Journal of Personality and Social Psychology, 46(5), 1097–1108.
  • Rutter, M. (1985). Resilience in the face of adversity. British Journal of Psychiatry, 147, 598–611.
  • Singer, J. A., & Blagov, P. (2004). Self-defining memories, narrative identity, and psychotherapy. In D. P. McAdams et al. (Eds.), Identity and the Life Cycle.
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