Ein Plädoyer für echte Anerkennung von Leistung und Würde
Einleitung: Was ein Mensch „wert“ ist
Bezahlung ist mehr als Geld. Sie ist Anerkennung, Teilhabe, Wertschätzung. Wer arbeitet, will nicht nur etwas leisten – sondern auch spüren, dass es zählt. Dass sein Beitrag gesehen wird. Für viele Menschen mit Behinderung aber endet dieser Wunsch dort, wo für andere der Lohnzettel beginnt. Obwohl sie täglich zur Arbeit gehen, produzieren, helfen, unterstützen – leben sie oft von wenigen Euro „Arbeitsentgelt“ im Monat.
Berufliche Inklusion bedeutet mehr als räumlicher Zugang zu Arbeitsstätten. Sie umfasst die gleichberechtigte Teilhabe an den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Dimensionen von Arbeit. Und dazu gehört: faire, würdevolle Bezahlung. Warum das so ist – und wie wir dahin kommen – beleuchtet dieser Essay.
Was ist das Problem? Eine kurze Einordnung
In Deutschland arbeiten rund 320.000 Menschen mit Behinderung in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Sie führen dort handwerkliche, technische oder montagebezogene Tätigkeiten aus – oft unter professioneller Anleitung und in klaren Arbeitsstrukturen.
Und doch erhalten sie kein Gehalt im arbeitsrechtlichen Sinne, sondern ein sogenanntes „Arbeitsentgelt“: durchschnittlich unter 200 € monatlich (BAG WfbM, 2023). Zusätzlich bekommen sie Grundsicherung vom Staat – doch diese ersetzt nicht das Gefühl, für die eigene Leistung selbstständig entlohnt zu werden.
UN-Konvention & Menschenrecht
Die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 ratifiziert hat, fordert in Artikel 27 das Recht auf Arbeit und gerechte Arbeitsbedingungen ohne Diskriminierung – also auch auf gleichwertige Entlohnung.
Trotzdem gelten Menschen in Werkstätten nicht als Arbeitnehmer:innen im rechtlichen Sinne. Sie haben weder Lohnanspruch noch Rentenversicherungsbeiträge in vollem Umfang – obwohl sie sich an die Arbeitszeiten, Regeln und Anforderungen eines strukturierten Arbeitsalltags halten.
Dieser Widerspruch ist nicht nur juristisch, sondern auch ethisch bedenklich. Leistung muss anerkannt werden – nicht über Fürsorge, sondern durch Teilhabe.
Zahlen, die sprechen
- Durchschnittliches monatliches Arbeitsentgelt in WfbM: ~200 €
- Vergleichsweise: Mindestlohn (2025): 12,41 € pro Stunde → ca. 2.000 € brutto bei Vollzeit
- Übergangsquote aus WfbM in reguläre Beschäftigung: unter 1 %
- Anteil schwerbehinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt: 47,5 % (Destatis, 2023)
Diese Zahlen machen deutlich: Es geht nicht nur um Geld – sondern um einen strukturellen Ausschluss, der auf einer alten Idee von Behinderung basiert: dass „diese Menschen“ eben anders seien, weniger könnten, „geschützt“ werden müssten.
Ein System im Dilemma: Schutz oder Ausgrenzung?
Werkstätten erfüllen zweifelsohne auch eine schützende, strukturgebende Funktion. Viele Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen finden hier einen stabilen Rahmen, soziale Kontakte und individuelle Förderung. Doch dieser Schutz darf nicht zum dauerhaften Sonderweg werden.
Das derzeitige System verhindert wirtschaftliche Selbstständigkeit und führt oft zu einem Leben unterhalb der Armutsgrenze – bei gleichzeitig vollbrachter Arbeitsleistung. Auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit, so wichtig für das Selbstwertgefühl, leidet darunter.
Perspektiven für Veränderung
Eine inklusive Arbeitswelt braucht faire Bezahlung. Dafür braucht es:
1. Neudefinition von „Arbeit“
Arbeit ist nicht nur das, was am Markt Gewinn abwirft. Auch unterstützende Tätigkeiten, soziale Dienstleistungen oder kreative Prozesse sind Arbeit – auch, wenn sie nicht nach üblichen Maßstäben bewertet werden können. Eine inklusivere Bewertung von Leistung ist notwendig.
2. Reform der Werkstätten
- Schrittweise Anhebung der Entlohnung auf mindestens das Niveau des Mindestlohns
- Einführung eines geregelten Arbeitnehmerstatus
- Anbindung an die gesetzliche Sozialversicherung
3. Stärkere Förderung von Inklusionsbetrieben
Diese bieten reguläre Arbeitsplätze mit individueller Unterstützung – und zahlen regulären Lohn. Ihre Zahl muss wachsen, durch staatliche Anreize und ein gesellschaftliches Umdenken.
4. Bürgergeld vs. Erwerbseinkommen
Kombimodelle oder Einkommensfreibeträge für Menschen mit Behinderung müssen so gestaltet werden, dass Arbeit sich lohnt – auch für Menschen mit Teilzeit- oder Unterstützungsbedarf.
Was kann ich im Alltag tun?
Auch wir als Einzelne können Teil der Veränderung sein:
- Kauf bewusst bei Inklusionsbetrieben – und frage ruhig nach den Arbeitsbedingungen.
- Erkenne Leistung an, auch wenn sie nicht marktwirtschaftlich messbar ist.
- Höre zu, wenn Menschen über ihre Arbeit und ihren Wert sprechen – und stelle den Vergleich zurück.
- Ermutige Arbeitgeber:innen, offen für Vielfalt zu sein – es zahlt sich aus: menschlich und wirtschaftlich.
Fazit: Inklusion beginnt mit Anerkennung
Wahre Inklusion fragt nicht: „Was kannst du leisten?“, sondern: „Wie können wir dich befähigen, zu leisten – und dich dafür würdigen?“ Bezahlung ist hier ein zentraler Schlüssel. Sie ist mehr als Geld. Sie ist ein Zeichen: „Du bist Teil dieser Gesellschaft. Du bist wertvoll. Du zählst.“
Lasst uns eine Arbeitswelt schaffen, in der jeder Mensch – ob mit oder ohne Behinderung – das Gefühl hat: Meine Arbeit zählt. Und ich auch.
Quellen und Fachliteratur
- Bundesarbeitsgemeinschaft WfbM (2023): Jahresbericht
- Statistisches Bundesamt (Destatis) (2023): Inklusionsstatistik
- UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Artikel 27
- Degener, T. (2020): Inklusive Arbeit als Menschenrecht. Nomos
- Fuchs, M. & Höckel, H. (2021): Arbeit – Teilhabe – Gerechtigkeit. Springer VS
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2023): Teilhabebericht