Ein Plädoyer für eine Arbeitswelt, die wirklich für alle da ist
Einleitung: Arbeit als Raum für Würde und Teilhabe
Arbeit bedeutet mehr als Erwerb. Sie ist ein zentraler Ort des Menschseins – ein Raum für Wirksamkeit, Sinn und soziale Verbindung. Für viele ist der Beruf ein wichtiger Teil ihrer Identität. Doch was ist mit den Menschen, deren Lebensweg von Krankheit, Behinderung oder anderen Barrieren geprägt ist? Welche Türen stehen ihnen offen – und welche verschlossen?
Berufliche Inklusion will hier ansetzen: nicht als Geste des guten Willens, sondern als Ausdruck gelebter Gerechtigkeit. Sie fragt nicht: „Was fehlt dir?“, sondern: „Was brauchst du, um mitgestalten zu können?“ Dabei rückt eine wichtige Differenzierung ins Zentrum: die zwischen dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt. Wie gerecht ist ihre Verteilung? Und wie inklusiv sind sie wirklich?
Erster und zweiter Arbeitsmarkt – was bedeutet das eigentlich?
Der erste Arbeitsmarkt
Hierzu zählen reguläre, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in der freien Wirtschaft. Zugang, Bezahlung und Arbeitsbedingungen werden durch Angebot und Nachfrage geregelt. Leistungsdruck, Effizienz und Wettbewerb prägen das Klima. Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder Unterstützungsbedarf haben es hier oft schwer – nicht, weil sie weniger leisten könnten, sondern weil die Strukturen oft nicht auf Vielfalt ausgelegt sind.
Der zweite Arbeitsmarkt
Hierunter fallen staatlich geförderte oder gemeinnützige Beschäftigungsangebote, etwa in Inklusionsbetrieben oder Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Ziel ist es, Personen mit erschwertem Zugang zum ersten Arbeitsmarkt beruflich (wieder) einzugliedern – häufig mit begleitender Unterstützung und reduzierten Anforderungen.
Beide Sektoren haben ihre Berechtigung. Doch das Spannungsfeld zwischen ihnen wirft wichtige ethische und politische Fragen auf.
Zahlen und Wirklichkeit: Wer gehört wohin?
- In Deutschland leben rund 7,9 Mio. Menschen mit Schwerbehinderung.
- Etwa 1 Mio. von ihnen sind erwerbsfähig, aber nur 47,5 % sind erwerbstätig (Statistisches Bundesamt, 2023).
- Rund 320.000 Menschen arbeiten in WfbM (Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen, 2023).
- Nur weniger als 1 % davon wechseln in ein reguläres Arbeitsverhältnis – der Übergang bleibt die Ausnahme.
Diese Zahlen zeigen: Der zweite Arbeitsmarkt ist für viele kein Sprungbrett, sondern ein Paralleluniversum. Das ist nicht per se schlecht – aber es sollte kein Endpunkt sein.
Zwischen Fürsorge und Freiheit: Eine kritische Perspektive
Werkstätten bieten Schutz, Struktur und Gemeinschaft – für viele Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf sind sie wertvoll und entlastend. Doch: Die dort gezahlten „Arbeitsentgelte“ liegen oft bei unter 200 € monatlich, was aus menschenrechtlicher Perspektive problematisch ist. Auch sozialversicherungspflichtige Absicherung fehlt häufig.
Zudem verstärkt sich durch das getrennte System die gesellschaftliche Segregation. Wer einmal im „Sonderbereich“ gelandet ist, kommt nur schwer wieder in die allgemeine Arbeitswelt zurück – nicht wegen fehlender Fähigkeiten, sondern wegen fehlender Übergangsstrukturen.
Gelingensbedingungen für echte berufliche Teilhabe
Was braucht es also für eine inklusivere Arbeitswelt – jenseits von Dualismus und „Sondersystem“?
1. Stärkung inklusiver Strukturen im ersten Arbeitsmarkt
- Förderung von Inklusionsbetrieben (Betriebe mit >30 % schwerbehinderten Mitarbeitenden)
- Schaffung von „Leuchtturm-Arbeitsplätzen“: barrierefrei, flexibel, diversitätsbewusst
- Einsatz von Jobcoaches, Peer-Mentoring und inklusiven Teams
2. Durchlässigkeit zwischen den Märkten ermöglichen
- Ermöglichung von Übergängen, z. B. durch gestufte Integrationsmodelle
- Langfristige Begleitung statt Einbahnstraße
- Finanzielle und strukturelle Anreize für Unternehmen
3. Reform der Werkstätten
- Faire Entlohnung und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
- Mehr individuelle Entwicklungschancen statt pauschale Tätigkeiten
- Perspektiven auf Teilhabe, nicht nur Beschäftigung
Alltagstipps und Haltung
Jede:r kann zu beruflicher Inklusion beitragen – nicht nur Politik oder Personalabteilungen.
- Sprich Menschen auf Augenhöhe an – mit Respekt, nicht Mitleid.
- Sieh Fähigkeiten, nicht Defizite – in Kolleg:innen, Bewerber:innen, Schüler:innen.
- Mach Platz in deinem Denken für Vielfalt – oft braucht es keine Revolution, sondern einfach ein bisschen Offenheit.
Fazit: Inklusion ist kein Akt der Gnade – sondern Ausdruck von Gerechtigkeit
Berufliche Inklusion ist ein Spiegelbild unserer Werte. Sie zeigt, wie ernst wir es meinen mit Gleichberechtigung, Teilhabe und Menschenwürde. Sie ist kein Gnadenbrot, sondern ein Menschenrecht. Und sie lohnt sich – für alle.
Eine inklusive Arbeitswelt ist nicht nur gerechter, sondern auch menschlicher, klüger und resilienter. Es liegt an uns, sie zu bauen – Schritt für Schritt, Mensch für Mensch.
Literatur und Quellen
- Statistisches Bundesamt (2023): Schwerbehindertenstatistik
- BMAS (2023): Teilhabebericht zur Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigungen
- UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 27
- BAG WfbM (2023): Jahresbericht
- Degener, T. (2021): Teilhabe und Selbstbestimmung. Nomos
- Priebe, J. & Riedel, L. (2022): Inklusion in der Arbeitswelt. Springer VS